Kreuzwegfenster in St. Martin
Der Kreuzweg von Paul Corazolla in St. Martin, Idstein
Kreuzwege sind fester Bestandteil einer jeden katholischen Kirche. Der Leidensweg Jesu mit seinen vierzehn Stationen vom Todesurteil bis zur Grablege mit seiner herausragenden Bedeutung für den christlichen Glauben wird hier künstlerisch festgehalten. Der Gläubige soll die vierzehn Stationen des Leidensweges Jesu betend mitgehen, sei es in stiller Betrachtung oder im Gebet der Kreuzwegandacht, wie sie besonders in der Fastenzeit praktiziert wird.
Die Kreuzwege sind meist in der Gestalt von Bildern oder Skulpturen anzutreffen, nur sehr selten besteht ein Kreuzweg aus Fenstern. Der Kreuzweg in St. Martin, von Paul Corazolla entworfen, gehört zu diesen wenigen Ausnahmen. Mit seinen kräftigen Farben hebt er sich von dem ansonsten bewusst schlicht gehaltenen Kirchenraum ab und prägt ihn in ganz eigener Weise. Die Darstellung bleibt bei aller Abstraktion figürlich und sehr eindringlich.
Paul Corazolla wurde 1930 als Sohn einer Sängerin und eines Komponisten in Berlin geboren. Ab 1946 studierte er an der dortigen Hochschule für Bildende Künste. Zu seinen Lehrern gehörten Carl Moll und Ernst Fritsch. Während seines Studiums verkehrte er mit so bekannten expressionistischen Künstlern wie Karl Hofer, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff.
Seit seinem Studium ist er als selbständiger Künstler in Berlin tätig. Schwerpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit ist die Glasmalerei. „In vielen Teilen Deutschlands und darüber hinaus hat er Bleiglasfenster für Kirchen und öffentliche Gebäude gestaltet und dabei eine eindringliche, zugleich symbolische und sinnliche Bild- und Farbensprache entwickelt, die die Gegenstände durch Abstraktion überschreitet und sie oft in geometrischen Motiven variiert.“ (Wikipedia)
Zu seinem Werk gehören drei Kryptafenster sowie der vierzehnteilige Fensterkreuzweg in der Kirche St. Martin in Idstein, der in seinem Werkverzeichnis auf das Jahr 1972 datiert wird. Ausgeführt wurde er durch die Firma Gustav Schulze & Jost in Berlin.
1. Station: „Jesus wird zum Tode verurteilt“
In leuchtendem Orange erstrahlt das erste Fenster. Jesus mit der Dornenkrone im Moment seines Todesurteils. Sein Blick wirkt leer, er scheint am Betrachter vorbeizugehen. Sein Leib, welchem die Qualen des Kreuzwegs bevorstehen, ist dunkel gehalten und hebt sich vom farbigen Hintergrund ab. Das Todesurteil ist scheinbar das Ende seines Lebens und das Scheitern seines Wirkens. Für den christlichen Glauben ist es aber erst der Beginn des wahren Höhepunktes: seines Leidensweges, der ihn bis in den Tod und darüber hinaus in die Auferstehung des Ostertages führen wird.
2. Station: „Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern“
Das leuchtende Orange des Hintergrunds geht im zweiten Fenster auf das Gesicht Jesu über. Es steht hier aber keineswegs für Freude, im Gegenteil. Sein Gesicht wirkt vielmehr traurig und hoffnungslos. In der alles bestimmenden Gestalt des finsteren Kreuzesbalkens lädt er die Sünde der Welt auf seine Schultern. Er ist kein willenloses Objekt menschlicher Willkür, er geht den Weg letzten Endes frei und aus Liebe; aus dem Willen, die Welt zu erlösen.
3. Station: „Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz“
Jesus wird erstmals von der Last des Kreuzes niedergestreckt. Erschöpft auf dem Boden liegend ist er im dritten Fenster zu sehen. Sein Gesicht wirkt wie schlafend, aber die weißen Arme signalisieren Aufbäumen. Er stützt sich ab, um wieder aufzustehen und den schweren Kreuzesbalken, der auch hier das Bild dominiert und Jesus scheinbar erdrückt, weiterzutragen. Jesus geht den Kreuzweg als wahrer Mensch. Es ist keine Inszenierung, er trägt die übermenschliche Last tatsächlich.
4. Station: „Jesus begegnet seiner Mutter“
Das Kreuz ist für einen Moment aus dem Blickfeld verschwunden. Stattdessen erstrahlt das vierte Fenster in Blau, der Farbe des Göttlichen, und in Grün, der Farbe des Lebens und der Hoffnung. Jesus begegnet noch einmal Maria. Keine freudige Begegnung ist es, sondern eine, die von Leid und Abschiedsschmerz geprägt ist. Genau so wirken die Gesichter. Traurig, mit niedergeschlagenen Augen, nicht einander anschauend. Beinahe hoffnungslos angesichts all der menschlichen Bosheit und Gewalt, die Jesus entgegenschlägt.
5. Station: „Simon hilft das Kreuz tragen“
Im fünften Fenster ist Jesus verschwunden, nicht aber das Kreuz: in kostbarem Gold erstrahlt es nun und ragt so aus dem fast ganz in grün gehaltenen Bild heraus. Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben. Simon von Zyrene hat es übernommen und hilft Jesus. Sein weißes, eindringliches Gesicht zeigt Widerwillen. Er tut einen mühsamen Dienst an dem, der für ihn das Kreuz trägt. Er tut es, anders als Jesus, aber nicht freiwillig. Soldaten zwingen ihn dazu. Erst später wird er begreifen, was hier geschehen ist und was er getan hat.
6. Station: „Veronika reicht Jesus das Schweißtuch“
Man muss genau hinsehen, um am rechten Rand des sechsten Fensters, blau in blau, Veronika zu entdecken. Auch sie verrichtet einen Dienst an dem, der für alle zum Diener, ja zum Sklaven geworden ist. Sie reicht Jesus das Schweißtuch, in das er sein Gesicht versenken kann, um es ein wenig von Blut und Schweiß zu reinigen. Das Gesicht der Veronika wirkt nicht widerwillig, sondern mitfühlend, vielleicht durch die dunkle Unterteilung ihres Gesichts sogar weinend. Sie tut ihren Dienst nicht aus Zwang, sondern aus ehrlichem Mitleiden.
7. Station: „Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz“
Zum zweiten Mal streckt die Last des Kreuzes Jesus nieder. Er wirkt geschlagener als beim ersten Fall. Wunden und Blut sind auf seinen Armen und in seinem Gesicht angedeutet. Ein Aufbäumen ist nicht zu sehen, nur der linke Unterarm ist erhoben. In Kontrast zu diesem erschütternden Anblick steht der kräftige rötliche Hintergrund des Fensters: Wie ein Abendrot, kurz vor dem Ende des Tages, vor dem Tod Jesu. Vielleicht aber auch wie das Morgenrot, das seinen Sieg über den Tod ankündigt?
8. Station: „Jesus begegnet den weinenden Frauen“
Verzerrte Gesichter sind zu erkennen, und Gliedmaßen, die kaum zuzuordnen sind. Frauen stehen am Wegesrand, die Jesu Leidensweg mit Weinen und Klagen begleiten. Warum die Gesichter verzerrt sind, bleibt unklar. Vielleicht aus aufrichtiger Trauer über das schreckliche Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielt. Vielleicht aber auch aufgrund der harschen und zurückweisenden Worte, die Jesus für sie findet: „Weint nicht um mich. Weint um euch und eure Kinder“ (Lk 23,28) Jesus warnt vor dem Unheil, das Jerusalem bevorsteht.
9. Station: „Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz“
Zum dritten Mal bringt die Last des Kreuzes Jesus zu Boden. Das kräftige Orange ist wieder da, doch Jesus sieht noch stärker getroffen aus als zuvor. Das Gesicht tief nach unten, weiß, leblos, mit geschlossenen Augen. Die Arme verschmutzt von Blut und Dreck, lehnt er am Kreuz. Das Leben scheint entwichen zu sein, kein Aufbäumen ist mehr zu erwarten. Nur das kräftige Licht bei seinem Gesicht deutet an, dass es noch nicht das Ende ist.
10. Station: „Jesus wird seiner Kleider beraubt“
Die Demütigung und Misshandlung Jesu beschränkt sich nicht auf rohe Gewalt. Man nimmt ihm auch seine Kleider ab. Papst Benedikt XVI. schreibt dazu: „Das Gewand weist dem Menschen seine soziale Stellung zu; es gliedert ihn in die menschliche Gesellschaft ein, macht ihn zu jemand. Die öffentliche Entblößung bedeutet, dass Jesus nun nichts mehr ist – ein Ausgestoßener, der Verachtung preisgegeben.“ Das hoffnungsstiftende Licht ist wieder verschwunden, das Fenster ist geprägt von Dunkelheit. Der entblößte Oberkörper Jesu ist bleich, das Leben entweicht. Er ist übersät mit Wunden, den Spuren des zurückliegenden Weges.
11. Station: „Jesus wird ans Kreuz genagelt“
Bei aller Farbenfreude zeigt das elfte Fenster doch die erschreckendste der Stationen. Jesus wird ans Kreuz geschlagen. Der Körper ist nun nicht mehr weiß, sondern grau, die Wunden sind noch deutlicher zu sehen. Das Gesicht mit geschlossenen Augen und offenem Mund drückt unaussprechlichen Schmerz aus. Im Kontrast dazu der Henker. In kräftigem Blutrot ist er nur von hinten zu sehen, so als er ob sich verschämt vom Betrachter abwendet. Die erhobene Rechte aber mit dem Hammer in der Hand zeigt offen, was er tut.
12. Station: „Jesus stirbt am Kreuz“
„Es ist vollbracht“ (Joh 19,30). Jesus ist tot, der Schmerz hat ein Ende. Leblos hängt sein verwundeter Leib vom Kreuz herab. Der Kopf ist nicht mehr erhoben, er neigt sich zur Seite. Sein Auftrag ist erfüllt. So groß ist die Liebe zum Menschen, dass Jesus bis zum Äußersten geht und am Kreuz sogar sein Leben hingibt. Seine eigene Ankündigung erfüllt sich: „Ich gebe es hin für das Leben der Welt“ (Joh 6,51). Doch auch wenn hier der Tod Jesu dargestellt wird, wirkt das Fenster auch lebendig. Es überwiegt strahlendes Grün. Eine Pflanze lässt sich erahnen. Der Tod Jesu ist nicht das Ende.
13. Station: „Jesus wird vom Kreuz genommen“
Vielleicht das Anrührendste aller Darstellungen dieses Kreuzweges. Der tote Jesus in den Armen seiner Mutter. Behutsam umgreift sie seinen Kopf, wendet sich ihm liebevoll zu. Mehr noch als Trauer ist Fürsorge zu sehen, fast als befürchte Maria, ihrem Sohn noch wehtun zu können. Das hoffnungsvolle Grün ist geblieben. Auch wenn die Pietà Ausdruck von tiefem Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen ist, bleibt doch die Hoffnung, dass die Verheißung Jesu vom Sieg über den Tod sich auch bewahrheiten wird.
14. Station: „Jesu Leichnam wird ins Grab gelegt“
Das vorläufige Ende. Jesu Leichnam wird bestattet. Es ist Josef von Arimathäa, einer der heimlichen Jesusjünger, der diesen letzten Dienst verrichtet. Ausdrucksstark sein Gesicht, behutsam und konzentriert. Wenigstens das kann er noch für Jesus tun: dem geschändeten Leib etwas von seiner Würde zurückgeben. Das Gesicht Jesu hingegen verrät, dass er wirklich und zweifellos tot ist. Das göttliche Blau, in dem er nun erstrahlt, lässt aber auch ahnen, was noch bevorsteht.
Pfr. Kirsten Brast