Erinnern für die Zukunft
Die Kampagne, die im Januar 2021 startete (das Bistum Limburg, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hessen nehmen teil; mittlerweile haben auch die Deutsche Bischofskonferenz und Evangelische Kirche in Deutschland die Idee aufgegriffen) und als Beitrag zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gedacht ist, soll Hintergrundwissen liefern und so Vorurteile abbauen. Das gelingt am besten, indem Gemeinsamkeiten unterstrichen werden.
Hier der link zur Website der Kampagne #jüdisch beziehungsweise christlich
Auf unserer Homepage werden in regelmäßigen Abständen jüdische und christliche Feste vorgestellt und nebeneinander gestellt.
Am Anfang aber war das Wort.....
Die Kampagne stellt die Feste des Christentums und des Judentums in den Mittelpunkt, bei denen die Verwurzelung des Christentums im Judentum ganz besonders deutlich wird:
- Purim und Karneval
- Umkehr und Antisemitismus
- Schabbat und Sonntag
- Namensgebung und Namenstag
- Pessach und Ostern
- Brit Milah und Taufe
- Bar Mizwa und Firmung
- Schawuot und Pfingsten
- Sukkot und Erntedank
- Jom Kippur und Buße
- Sachor und 9. November
- Chanukka und Weihnachten
Erinnern für die Zukunft: Sachor beziehungsweise 9. November.
Eine jüdische Stimme
Brennende Synagogen, zerstörte Einrichtungen, Morde und Massenverhaftungen – die Reichspogromnacht des 9. November 1938 war ein Wendepunkt in der deutsch-jüdischen Geschichte. In der Erinnerungskultur jüdischer Gemeinden hierzulande ist dieses Datum zentral. Gemeinsame Geschichte ist identitätsstiftend, aber welches Selbstverständnis lässt sich aus erlittener Verfolgung und Vernichtung beziehen? Und wie gedenkt man der Schoah, der kaltherzig von Menschen begangenen monströsen Verbrechens, das unser Verstehen übersteigt?
Sachor, Erinnern und Gedenken, gehört zum Kern des Judentums und drückt sich in charakteristischen liturgischen Praktiken aus. Klagelieder und Gebete wie Kaddisch und El Malé Rachamim sind jahrhundertealte Ausdrucksformen von Trauer und Gedenken, die weiterhin benutzt werden, ohne damit der Schoah eine religiöse Deutung beizulegen. Daneben bezieht jüdische Erinnerungskultur heute eine Vielfalt anderer Formen ein, wie Zeitzeugenberichte, Kunstwerke, Namenslesungen. Auch unterschiedliche biographische Zugänge wirken sich auf die Gestaltung des Erinnerns aus: Überlebende gedenken anders als die Generation ihrer Enkel, aus der früheren Sowjetunion zugewanderte Juden bringen wieder andere Narrative mit. Einig sind sich alle darin, das „Sachor!“ fortzutragen und lebendig zu halten.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
»Zwei und ein halbes Jahr stritten die vom Lehrhaus Schammais mit denen des Lehrhauses Hillel über die Konsequenzen des bösen Tuns der Menschen. Die einen sagten: Es wäre dem Menschen dienlicher, wenn er nicht erschaffen worden wäre.
Die anderen sagten, es ist dem Menschen dienlicher, dass er erschaffen worden ist. Sie stimmten ab und kamen zu dem Schluss: Es wäre dem Menschen zwar dienlicher, er wäre nicht erschaffen worden, da er nun aber erschaffen sei, soll er seine Geschichte bedenken und sein Tun in der Zukunft.« (Babylonischer Talmud, Eruvin 13 b)
Ein hochaktueller uralter Text, der für die Frage nach Wegen der Erinnerung und des Gedenkens als Ausgangstext nicht nur am 9. November taugt. Zukunft ist Erinnerung und alle Versuche, ohne den Prozess die eigene »Geschichte zu bedenken«, »zu tun«, also handlungsfähig zu werden, werden scheitern. Dabei macht dieser Text auch auf eine Orientierung deutlich, ohne die Erinnerung nicht auskommt. Denn wie wir auch wissen, ist Erinnerung nicht per se auf eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden ausgerichtet. Es gibt auch Erinnerung an vergangene durch Gewalt entstandene Größe oder eben auch leider Erinnerungen an die Nazizeit, die sich nach so einer germanischen Herrschaft sehnen, oder nach einem weißen Europa.
Biblisch geht es aber um die Vermeidung von gewaltvollem bösen Tun. Es geht um Erinnerung, die Ernst macht mit der Ebenbildlichkeit Gottes aller Menschen und damit eben der Teilhabe und der Gleichwertigkeit aller Menschen. Nun ist der Talmud kein christlicher Text. Dass wir ihn überhaupt als Christ*innen wertschätzend wahrnehmen, ist wohl auch ein Ergebnis von Erinnerung. Erinnerung daran, dass unsere Kirchengeschichte vor Missachtung und Gewalt gegen Juden nur so strotzt und dass wir uns von dieser Missachtung abkehren müssen – Erinnerung als Umkehr. Denn diese eigen Gewaltgeschichte zu bedenken und danach zu tun, führt uns in eine demütigen und wertschätzenden Zugang zu jüdischem Denken und zu der Frage, warum musste diese Schwester im Glauben, das Judentum, von Christ*innen so abgewertet, diskriminiert und verfolgt werden. Diese Frage ist am 9. November heute besonders naheliegend. Denn Erinnerung ist Aufruhr auch gegen die eigenen bis in die Gegenwart wirksamen judenfeindlichen Traditionen. Solche Erinnerung gestaltet Zukunft. Gehen wir denken und tun danach.
Christian Staffa
Versöhnung feiern: Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl
Eine jüdische Stimme
Rosch HaSchanah und Jom Kippur gelten als die Hohen Feiertage des Judentums, denn an ihnen werden Fragen von Leben und Tod verhandelt. „Wer wird leben und wer wird sterben?“, fragt ein bekanntes Gebet, das zum jüdischen Neujahr und zum Versöhnungstag gesagt wird. Die dazwischenliegenden Zehn Tage der Umkehr werden als eine Zeit des Gerichts verstanden, in der Gott über unsere Fehler und Versäumnisse richtet und dementsprechend ein Urteil zu einer guten oder einer düsteren Zukunft über uns verhängt. Wir bemühen uns, diesen Richterspruch zu unseren Gunsten zu beeinflussen, indem wir selbstkritisch unser Leben betrachten, unsere Verfehlungen erkennen und uns ändern.
Doch es genügt nicht, zu Gott um Vergebung zu flehen. Unrecht und Verletzungen, die wir anderen Menschen zugefügt haben, müssen wir selbst in Ordnung bringen: Zu diesen Menschen hingehen, um Verzeihung bitten und auch Verzeihung gewähren, den Schaden wiedergutmachen, steht als religiöses Gebot nicht hinter Gebet und Fasten zurück. Erst dann können wir auf Versöhnung hoffen und einen Neuanfang mit Gott, mit unseren Nächsten und auch mit uns selbst wagen.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Das Abendmahl ist ein Fest der Offenbarung Gottes. Rituell verdichtet erscheinen die Ursprungsmomente christlichen Weltverständnisses: Tod und Auferstehung Jesu, Schöpfung und Erlösung. Bruchstückhaft nur lässt sich das zur Sprache bringen. Denn das „Wort im Anfang“, der schöpferisch sprechende Gott, der in Christus Mensch wurde, starb am Kreuz. Mit ihm verschied die Verständlichkeit der Welt. Aus diesem Abgrund des Todes aber kommt uns Gott entgegen, stiftet neuen Sinn. Im Abendmahl geschieht Auferstehung – als Hoffnung, Wahrheit und Leben jenseits des Sagbaren.
Das Abendmahl holt das Christusereignis in die Gegenwart. Christus hat sein Liebesopfer einmal vollzogen – damit ist alles für alle Zeit gesagt. Nunmehr verwirklicht sich christliche Religion im Glauben an das, was geschehen ist: Für dich gestorben. Abendmahl heißt: Sich in dieses „Für dich“ zu fügen.
Dies geschieht in der Gemeinschaft derer, die sich versammeln zum Essen und Trinken. Sie feiern mit Christus bereits jetzt in der neuen Welt sein Festmahl. Gegenwart und Zukunft Gottes fallen in eins.
Das Abendmahl steht für eine lebenslange Umkehr. Es ist eine Wegzehrung. Der Mensch, der sich in Schuld und Entfremdung selbst verloren hat, erfährt Vergebung und Neuanfang. Im Abendmahl schmecken wir das süß werdende Brot auf der Zunge. Im Einfachsten sind wir gehalten – als Wesen in der Schwebe, gefallen und erhoben von Gott in einem Augenblick.
Dr. Christian Lehnert
All die guten Gaben: Sukkot beziehungsweise Erntedankfest
Eine jüdische Stimme
Bunt geschmückte Laubhütten, aus denen das Klappern von Geschirr und Singen nach draußen dringen, sind das Zeichen für Sukkot. Dieses siebentägige Fest mit seinen vielen Farben und Symbolen wirkt wie ein Kontrast zu den gerade erst zu Ende gegangenen Hohen Feiertagen ganz in Weiß. Und doch führt uns auch das sinnenreiche Sukkot vor Augen, dass wir nicht die Kontrolle über unser Leben haben und wie wenig in unseren Händen liegt. Darum erinnert uns die Nachahmung der provisorischen Behausungen während der Wüstenwanderung daran, dass wir auf den Schutz Gottes angewiesen sind. Die Wände der Laubhütte sind dünn, durchlässig zur Welt, man hört alle Geräusche ringsum, und sie bieten keinen Schutz gegen Kälte und Gefahren.
Sukkot drückt auch den Dank für die Früchte des Feldes und des Gartens aus. Die Ernte ist eingebracht, erst jetzt ist Zeit zum Feiern. Es ist üblich, Gäste in die Laubhütte einzuladen – Familie, Freunde und Nachbarn, aber auf eine imaginäre Weise gesellen sich zu uns auch bedeutende Gestalten der Bibel und der jüdischen Geschichte. Sie alle helfen uns, das wichtige Gebot des Festes zu erfüllen: Fröhlich zu sein und sich über den Reichtum in unserem Leben zu freuen.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Zum Erntedankfest sind die Kirchen und Altäre mit allerlei Früchten des Feldes bunt geschmückt. Gottes reichhaltige Schöpfung wird sicht- und greifbar. An diesem Fest steht der Dank für die Gaben der Natur im Mittelpunkt. Dahinter steht die Erfahrung, dass sich der Mensch nicht sich selbst verdankt. Die christliche Tradition sieht – ebenso wie die jüdische Tradition – Gott als den Schöpfer der Welt, der ihr Leben und Nahrung schenkt. Gleichzeitig erinnert das Fest daran, dass die Gaben der Schöpfung gerecht verteilt werden sollen.
In der liturgischen Feier des Erntedankfestes werden die Erntegaben, die den Altar schmücken, gesegnet, wird für die Ernte gedankt und um ein solidarisches Miteinander mit den Notleidenden gebetet. Im Anschluss werden die Gaben, die den Altar schmücken, häufig an bedürftige Menschen verschenkt.
Neben den Gottesdiensten ist das Erntedankfest von einem sehr reichen und regional unterschiedlichen Brauchtum geprägt. So gibt es Umzüge, Prozessionen und Erntetänze sowie Stadt- oder Dorffeste, bei denen das gemeinsame Essen und Trinken eine große Rolle spielt.
Dr. Christiane Wüste,
Referentin für biblische und liturgische Bildung
Haus Ohrbeck
B´reschit beziehungsweise Im Anfang
Freude am Wort Gottes: B´reschit beziehungsweise Im Anfang
Eine jüdische Stimme
Im Judentum stellt die Torah den Kern von Gottes Offenbarung am Sinai dar. Der Text der Fünf Bücher Mose ist in 54 Abschnitte eingeteilt, so dass jede Woche etwa drei bis fünf Kapitel gelesen werden (an manchen Schabbatot auch ein Doppelabschnitt). Ihren Titel beziehen diese Wochenabschnitte von einem markanten Wort im Anfangsvers dieser Lesung, das auch dem jeweiligen Schabbat seinen Namen gibt. Einmal im Jahr wird die gesamte Torah durchgelesen und dabei kein Vers, kein Wort, kein Buchstabe beim Vortrag ausgelassen – so unbequem oder bedeutungslos uns auch manche Geschichte erscheinen mag. Das zwingt dazu, sich auch mit schwierigen Texten auseinanderzusetzen.
Jedes Jahr im Herbst feiern Jüdinnen und Juden das Fest der Torahfreude, Simchat Torah. Dann endet der jährliche Lesezyklus der Torah und beginnt sogleich wieder aufs Neue. Dieser Gottesdienst wird in der Synagoge in großer Fröhlichkeit gefeiert: Alle Torahrollen werden aus dem Aron Hakodesch geholt und in sieben Prozessionen durch die Synagoge getragen. Man trägt den letzten Abschnitt aus Deut 33-34 vor und fängt dann gleich wieder mit dem ersten Kapitel Gen 1 an: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Die Bibel enthält „Gottes Wort im Menschenwort“. Jedes Menschenwort in der Bibel ist göttlich inspiriert ist bei seiner Entstehung und kann als Gottes Wort heute und für mich oder für uns wirken.
In christlichen Gottesdiensten wird sehr selten eine Vollbibel verwendet. Die biblischen Textabschnitte, die vorgetragen werden, sind im mehrbändigen Lektionar abgedruckt. Manchmal können für die Lesung aus den Evangelien zusätzlich kostbare Evangeliare vorhanden sein.
Diese Bücher können liturgisch verehrt werden, durch Prozessionen, Küssen, Weihrauch und Kerzen.
In Deutschland gibt es die Besonderheit des Ökumenischen Bibelsonntags, der immer Ende Januar in großer ökumenischer Verbundenheit gefeiert wird.
Bei der Auslegung des Bibeltextes ergänzen sich wissenschaftliche, liturgische, pastorale und individuelle Zugänge. Die Bibel inspiriert uns, denn „… in ihrem Innern (= der Bibel) hallt das Lachen des Menschen wider und fließen die Tränen, so wie sich das Gebet der Unglücklichen und der Jubel der Verliebten erhebt.“ (Schlussdokument der röm. Bischofssynode „Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche, Nr. 5 (2008).
Dr. Katrin Brockmöller, Direktorin Katholisches Bibelwerk e.V.
Spirit, der bewegt: Schawuot beziehungsweise Pfingsten
Spirit, der bewegt: Schawuot beziehungsweise Pfingsten
Eine jüdische Stimme
Schawuot wird genau fünfzig Tage nach dem Pessachfest begangen und feiert die Offenbarung der Torah am Sinai. Eigentlich ist jede Torahlesung ist eine Vergegenwärtigung dieses Ereignisses, beim „Fest der Gabe der Torah“ aber noch einmal besonders, denn es werden die Zehn Gebote vorgetragen, die eine direkte Ansprache Gottes an Israel waren. Dieser Akt wird als eine Art Hochzeit zwischen Gott und Israel verstanden, und die Torah ist der Ehevertrag, der die gegenseitige Hingabe und Verpflichtung beider Liebender darlegt. Ein Sinnbild dieser Treue ist das biblische Buch Ruth, das dem Wochenfest als besondere Lesung zugeordnet ist.
Schawuot ist eines der drei Wallfahrtsfeste und hat wie diese auch eine landwirtschaftliche Dimension. Es wird auch als „Fest der Erstlingsfrüchte“ bezeichnet, weil es den Beginn der Weizenernte und des Reifens der Sommerfrüchte in Feld und Garten markiert. Zum besonderen Festtagsopfer zu Tempelzeiten gehörte das Darbringen von Weizenbroten. Heute ist das Fest vor allem wegen des Tikkun, einer Lernnacht, populär, bei der man sich gemeinschaftlich bis in die frühen Morgenstunden dem Torahstudium hingibt. Wach gehalten wird man dabei durch die Vielzahl süßer und herzhafter Gerichte aus Milch und Käse, die dem Fest seinen besonderen Geschmack geben.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Die Hauptfeste Israels sind ursprünglich im natürlichen Jahreszyklus des Landes verankert und markieren mit dem Dank für die Gaben der Erde die unterschiedlichen Jahreszeiten (vgl. Dtn 26,1-11). Schawuot, das sieben Wochen nach Pessach begangen wird, feiert dabei den Abschluss der Getreideernte. Alle Feste wurden jedoch im Lauf der Geschichte mit bedeutenden Ereignissen aus der Bibel theologisch hinterlegt. An Schawuot wird der Gabe der Tora am Gottesberg gedacht. Da die göttliche Weisung in ihrem Wortlaut als kanonischer Text nicht verändert werden darf, die ethischen und kultischen Gebote und Verbote jedoch der Adaption in neue Zeiten bedürfen, braucht es zur rechten Auslegung der Mose-Tora göttliche Inspiration, die Gabe des Geistes. Die Geistbegabung an alle Menschen (vgl. Joël 3 vgl. Apg 2) schafft unmittelbaren Zugang zu Gott und seiner Offenbarung und bewirkt, dass alle im Gottesvolk die gesamte Tora begreifen und befolgen können (vgl. Ez 36,26f.). Die neutestamentliche Rezeption im Pfingstereignis aktualisiert diesen universalistischen Zugang und macht die christliche Botschaft für Menschen aus allen Völkern verständlich.
Irmtraud Fischer, Professorin am Institut für Alttestamentl. Bibelwissenschaft, Graz
Brit Milah beziehungsweise Taufe - Ritual für das Leben
Eine jüdische Stimme
Langfassung
„Und Gott sprach zu Abraham: Du aber sollst meinen Bund bewahren, du und deine Nachkommen nach dir, Generation um Generation. Dies ist mein Bund zwischen mir und euch und deinen Nachkommen nach dir, den ihr bewahren sollt: Alles, was männlich ist, muss bei euch beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in allen euren Generationen (…). So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein. Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus seinem Volk getilgt werden. Er hat meinen Bund gebrochen.“ (Gen 17, 9-14)
Die Beschneidung gehört zu den ersten Geboten, die in der Torah aufgeführt werden. Sie ist das körperliche Zeichen für den Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat. Männliche Säuglinge werden an ihrem 8. Lebenstag beschnitten, auch wenn dieser auf einen Schabbat oder einen Feiertag fällt. Falls gesundheitliche Bedenken bestehen, weil das Baby krank oder schwach ist, wird die Beschneidung verschoben und zu einem günstigeren Zeitpunkt vorgenommen.
Die Pflicht, das Kind beschneiden zu lassen, obliegt laut der Halachah dem Vater, der aber den Vollzug dem Mohel, einem eigens dafür ausgebildeten Beschneider überträgt. Bei der Zeremonie holt der Kvatter oder die Kvatterin (Pate bzw. Patin) das Kind von der Mutter ab und trägt es in den Raum, wo die Beschneidung stattfindet. Dort wird es dem Vater übergeben, der es dem Sandak auf den Schoß legt. Das ist eine Person aus der Familie oder der Gemeinde, die damit beehrt wird, das Kind während der Beschneidung zu halten. Dazu sitzt er auf oder neben dem „Stuhl des Propheten Elias“, einem besonders dekorierten Stuhl oder Doppelsitzer, denn nach jüdischer Tradition kündet der Prophet Elias die Erlösung an, seine Gegenwart und sein Schutz werden in schwierigen Situationen angerufen. Der Mohel verliest einige Bibelverse, dann sagt der Vater den Segensspruch: „Hiermit bin ich bereit, das Gebot zu erfüllen, das mir der Heilige, gesegnet ist er, aufgegeben hat, nämlich meinen Sohn zu beschneiden.“ Der Mohel spricht den Segensspruch über den Vollzug der Beschneidung und nimmt diese vor. Dem Kind ist zuvor ein Tropfen süßer Wein verabreicht worden, den es vom Finger lutscht und dadurch abgelenkt ist. Dann sagt der Vater den Lobpreis dafür, dass Gott ihm geboten hat, seinen Sohn in den Bund Abrahams eintreten zu lassen. Die Anwesenden antworten darauf mit „Amen“ und wünschen dem Kind: „So wie er in den Bund eingeführt wurde, soll er auch zur Torah, zur Chuppah (Traubaldachin) und zu guten Werken herangeführt werden“. Auch Gott wird gepriesen, der den Bund schließt.
Anschließend folgt die Namensgebung: Der hebräische Name des Kindes mit Namen des Vaters oder der Eltern wird verkündet. Dann wird ein Segen über das Kind gesprochen. Mohel und Mutter versorgen das Kind, während sich die Gäste zu einer Festmahlzeit niederlassen. Beim Tischgebet werden der Vater bzw. die Eltern, der Sandak und der Mohel mit eigenen Segenswünschen geehrt. Im übrigen müssen sich auch Jungen und Männer, die zum Judentum übertreten, der Brit Milah unterziehen.
Und was ist mit Mädchen? Das körperliche Zeichen des Bundesschlusses bezieht sich ja ausschließlich auf Jungen. In Deutschland ist das Wort „Beschneidung“ immer wieder in Bezug auf Mädchen zu hören. Dem muss entschieden entgegengetreten werden: Bei den dabei gemeinten Praktiken handelt es sich um Genitalverstümmelung, für die es im Judentum keinen Platz gibt. Wenn aber das Bundeszeichen bei Mädchen nicht an ihrem Körper sichtbar gemacht wird, welche Formen gibt es dann, um ihre Aufnahme in den Bund zwischen Gott und Israel zu feiern?
In der Tat gibt es dafür traditionell keine Zeremonie mit Ausnahme der Namensgebung, die der Vater am Schabbat nach der Geburt in der Synagoge, aber in weit weniger festlichem Rahmen vornahm. In den letzten Jahrzehnten ist es aber üblich geworden, der Wertschätzung von Mädchen und Frauen sowie der großen Freude über Nachwuchs Ausdruck zu verleihen, indem auch die Töchter in einem eigenen festlichen Ritual in den Bund zwischen Gott und Israel eingeführt werden. Diese Zeremonie wird meist „Simchat Bat“ („Freude über die Tochter“) oder „Sewed HaBat“ („Geschenk der Tochter“) genannt. Sie hat noch nicht einen so klar vorgegebenen Zeitpunkt und Ablauf wie die Brit Milah, aber auch sie heißt die neue Erdenbürgerin freudig willkommen und feiert die Fortführung des Bundes in der nächsten Generation. Analog zur Beschneidung sagen die Eltern einen Segensspruch über das Gebot, ihre Tochter in den Bund Gottes mit Israel einzuführen. Und auch hier antworten die Anwesenden mit dem Wunsch: „Wie sie in den Bund eintrat, möge sie auch an die Torah, die Chuppah und an das Tun guter Werke herangeführt werden.“ Wenn die Feier in der Synagoge stattfindet, wird das Baby mitunter auf einen Tallit auf der Bimah, dem Lesetisch für die Torah, gelegt, dabei ist es umrahmt von Bonbons als Symbol für die Süße der Worte der Torah. Häufig werden auch Verse aus der Torah gelesen, zum Beispiel Deut 29, 9-14, die davon handeln, dass ganz Israel, Männer, Frauen und Kinder, gegenwärtige und zukünftige Generationen, in den Bundesschluss einbezogen sind. Oder auch Jer 31, 32: „Denn dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel schließe. Nach jenen Tagen, ist der Spruch des Ewigen, werde ich meine Torah in ihr Inneres legen und sie auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.“ Das Kind und die Eltern werden gesegnet und mit guten Wünschen bedacht. Natürlich ist auch die Namensgebung und eine Festmahlzeit Bestandteil dieses neuen Rituals.
Das Ritual der Brit Milah ist immer wieder zum Gegenstand antijüdischer Polemik gemacht worden. Erst in jüngster Vergangenheit wurden in Deutschland Vorwürfe erhoben, die in der Beschneidung einen barbarischen Akt und eine Kindeswohlgefährdung sehen. Die daraufhin entfachte Debatte, deren Auslöser übrigens die Beschneidung eines muslimischen Kindes war, stellte das Recht eines Kindes auf körperliche Unverletztheit in den Vordergrund, dahinter habe die durch die Religionsfreiheit gedeckte Ausübung traditioneller Rituale zurückzustehen. Die Diskussion wurde mit deutlichen antisemitischen Obertönen geführt, die die Beschneidung jüdischer – und muslimischer – Kinder als Körperverletzung und religiöse Indoktrination darstellten. Für Juden ist die Brit Milah ein unveräußerlicher Teil jüdischen Selbstverständnisses, eine jahrtausendelang praktizierte Tradition, die als Gebot der Torah Ausdruck von Gottes Willen ist. Die Religionsfreiheit umfasst auch das elterliche Recht, das Kind beschneiden zu lassen, ein Verbot der Brit Milah würde jüdisches Leben in Deutschland als unerwünscht erklären. Der Bundestag verabschiedete danach im September 2012 ein Gesetz über die Beschneidung von Jungen, das Eltern ausdrücklich das Recht zuweist, eine Brit Milah vornehmen zu lassen. Bis zu einem Alter von sechs Monaten dürfen die von einer Religionsgemeinschaft dafür vorgesehenen und speziell ausgebildeten Beschneider diese Operation vornehmen, danach nur noch Mediziner in einer ärztlichen Praxis.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Langfassung
Die Taufe steht am Anfang eines jeden christlichen Lebens. Sie begründet das Christsein. Sie schenkt Anteil am Leben Jesu Christi. Daher schreibt der Apostel Paulus, dass der Mensch in der Taufe mit Christus stirbt, mit ihm aber auch aufersteht und neues Leben gewinnt. (Röm 6,1-11) In der Taufe soll der alte Mensch sterben, derjenige Mensch, der von der Logik der Welt, von den Gesetzen der Selbstbehauptung und des Rechts des Stärkeren lebt. In der Taufe erklärt sich der Mensch bereit, aus dem Geist Christi, seiner Weisheit und Hingabe zu leben. Er nimmt das „leichte Joch“ von Jesu Lebenslehre auf sich. (Mt 11,29f) Daher gehört zur Taufe eine Absage gegenüber allem Bösen und ein Bekenntnis zur Lebensweise Jesu und zu seinem Gott. Zur Taufe gehört immer das Glaubensbekenntnis.
Christus will die Menschen zu Gott führen. Sie sollen in eine Tiefe Gemeinschaft mit ihm finden. Gott ist die Quelle und der Schöpfer allen Lebens. Daher führt die Taufe auch in einen Bund mit Gott. Der Mensch wird nicht nur auf den Namen Jesu getauft, sondern auf ihn und seinen Gott. Die Taufformel, die sich in den grossen Kirchen durchgesetzt hat, ist dem Matthäusevangelium entnommen. Dieses endet mit dem auferstanden Christus, der zu seinen Anhängern spricht: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Mt 28,19f). Die Taufe nimmt also in die Gemeinschaft hinein, die Christus mit Gott, seinem Vater hat. Der Heilige Geist ist das Band dieser Beziehung. Die Taufe führt in die Gemeinschaft des dreieinigen Gottes. Sie ist Initiation in das Mysterium des christlichen Monotheismus.
Die Gemeinschaft mit Gott spiegelt sich immer in der Gemeinschaft unter den Menschen. Sie führt in eine besondere Verbindung mit allen anderen Getauften. Daher fügt die Taufe auch in die Gemeinschaft der Kirche ein. Die Kirche ist Gemeinschaft aller, die aus der Logik der alten Welt herausgerufen sind, in besonderer Weise aus und für das Evangelium zu leben. Damit bilden die Getauften eine Gemeinschaft von Heiligen, wie es im Neuen Testament heisst. (z.B. Röm 1,7) Die Berufung zu einem Leben in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht ist eine Kurzformel des christlichen Lebens. (Lk 1,74f) Die Taufe ist im Grunde genommen etwas für erwachsene Menschen, die sich entschieden haben, als Christen zu leben, weil sie von der Frohbotschaft Jesu ergriffen worden sind.
Die Kirche tauft in unserer Gesellschaft jedoch viele Kinder. Wenn das Kleinkind nach der Geburt getauft wird, muss eine christliche Erziehung gewährleistet sein. Gott nimmt im Kleinkind den Menschen ohne Vorleistung an, doch später erwartet er eine Antwort darauf in einem christlichen Lebensstil. In der Firmung bzw. der Konfirmation sagt der junge, erwachsene Mensch dann sein eigenes Ja. Ähnlich gehören Beschneidung und Bar-Mitzwa bzw. Bat-Mitzwa im Judentum zusammen, wo die jungen Erwachsenen bewusst sich auf die Gebote verpflichten, die ein jüdisches, erwachsenes Leben prägen sollen, auch wenn sie seit Geburt jüdisch sind und auch wenn die Knaben am achten Tag beschnitten wurden.
Schon das jüdische Volk ist berufen ein heiliges und priesterliche Volk zu sein, als es aus der Sklaverei Ägyptens auszieht und die Weisung Gottes im Bund am Sinai übernimmt. (Ex 19,5f) Auch die Kirche versteht sich als pilgerndes Volk Gottes, als heiliges, königliches und priesterliches Volk. (1 Petr 2,9) Prophetisch, priesterlich und königlich sind Aufgaben, die jedem einzelnen Christen anvertraut sind, denn er lebt nicht für sich allein: Prophetisch hat er Andere zu lehren. Priesterlich hat er für Andere zu beten und fürbittend vor Gott zu treten. Königlich hat er die Welt im Geist Gottes zu regieren. Für all diese Aufgaben wird ihm bei der Taufe der Heilige Geist geschenkt. Bei der Taufe wird jeder und jede dazu mit heiligem Öl gesalbt und gestärkt.
Es ist bereits klar geworden: Der Taufbund steht in einer Analogie zum Bund der Beschneidung im Judentum. Wie der jüdische Knabe durch den Ritus der Beschneidung in den Bund Gottes eintritt, so der Nicht-Jude und die Nicht-Jüdin durch die Taufe ins Christentum. Die Taufe wird daher auch Beschneidung des Herzens genannt. (vgl. Röm 2,29) Für Juden ist Inhalt des Bundes die Tora, die Weisung Gottes, nach der es zu leben gilt. Für Christen ist der Inhalt des Bundes Jesus Christus, der die Weisung Gottes in einmaliger Weise gelebt hat; ihm gilt es im Leben nachzufolgen. Die imitatio Christi ist die spezifische Form der imitatio Dei, die auch im Zentrum jüdischer Spiritualität steht.
Jesus ist für Christen der Sohn Gottes und die zweite Person des dreieinigen Gottes. Er ist aber nicht nur ganz Gott, sondern auch ganz Mensch, unvermischt und ungetrennt. So hat das Konzil von Chalcedon 451 n. Chr. das paradoxe Geheimnis treffend formuliert und paradigmatisch die Verbindung von Gott und Mensch beschrieben. Als Mensch ist Christus Jesus Jude, denn in ihm ist das Wort Gottes Fleisch geworden. (Joh 1,18) Als Jude ist Jesus am achten Tag beschnitten worden und so in den Bund Gottes mit seinem Volk eingetreten. (Lk 2,21) Die Kirche hat über viele Jahrhunderte am 1. Januar die Beschneidung und die Namensgebung Jesu gefeiert. An die Stelle der Beschneidung ist im Christentum die Taufe als Zeichen für den neuen Bund getreten. Der Apostel Paulus, obwohl selbst beschnitten und dies auch von Juden fordert, die sich der messianischen Bewegung um Christus anschliessen, kämpft darum, dass die Heiden, die Christen werden, sich nicht beschneiden, sondern taufen lassen. Sein Brief an die Galater ist genau diesem Thema gewidmet.
Die Taufe steht nicht nur am Anfang des Christsein. Sie prägt jeden Christen und jede Christin bis ans Lebensende. Einmal getauft, für immer getauft. Eine Taufe kann weder ungeschehen gemacht werden, noch braucht sie wiederholt zu werden. Weder ein formeller Kirchenaustritt noch ein Übertritt in eine andere Konfessionskirche hat auf die Taufe eine Auswirkung. Wer sich in seinem Lebensstil von Christus abwendet, kann und sollte auch jederzeit umkehren. In der röm.-kath. Tradition steht dafür das Zeichen der Beichte. Schuld wird vergeben, Wunden werden geheilt und neu ins Leben Christi und seiner Gemeinschaft der Kirche integriert. Daher ist die Beichte der Taufe verwandt. Sie erneuert die Taufe und gliedert wieder neu in die Gemeinschaft der Getauften ein. Vor allem in der Liturgie der Osternacht, dem bevorzugten Zeitpunkt für Taufen, weil da Jesu Tod und Auferstehung unmittelbar gefeiert und vergegenwärtigt wird, wird auch das Taufbekenntnis immer wieder erneuert.
P. Dr. Christian M. Rutishauser SJ
Frei von Sklaverei und Tod: Pessach beziehungsweise Ostern.
Eine jüdische Stimme
Pessach hat vier Namen: Es ist das „Frühlingsfest“, weil Pessach immer im Frühlingsmonat Nissan begangen wird. Es ist das „Fest der Matzah“, denn für die Pessachwoche werden Brot und alle Getreideprodukte (Mehl, Kuchen, Nudeln usw.) aus dem Haushalt verbannt. Stattdessen wird das „Ungesäuerte Brot“, die Matzah, und aus Matzemehl hergestellte Teigwaren gegessen. Es ist das „Überschreitungsfest“ (so die wörtliche Bedeutung von „Pessach“), weil der Todesengel die Häuser des Israeliten ausließ. Aber am markantesten erfasst wohl die Bezeichnung „Fest der Freiheit“ den Inhalt des einwöchigen Feiertags.
rn wir den Auszug Israels aus der Sklaverei Ägyptens. In Erinnerung an diesen Befreiungsakt Gottes begehen wir eine Woche lang ein Fest, das bei religiösen wie bei säkularen Juden so tief verankert ist wie wohl kein anderes Datum des jüdischen Kalenders. Schon Wochen zuvor beginnen die Festtagsvorbereitungen: Die Wohnung wird gründlich geputzt und alle Lebensmittel, die etwas von den fünf Getreidearten Weizen, Gerste, Roggen, Hafer oder Dinkel enthalten, werden aussortiert. Alle Orte, an denen sich auch nur Überreste davon finden könnten, werden gereinigt, sogar Kekskrümel aus Büchern geschüttelt oder das Auto staubgesaugt. Viele Familien benutzen auch ein eigenes Pessach-Geschirr, um jegliche Getreiderückstände („Chametz“ genannt) zu vermeiden. Am Abend vor dem Festbeginn wird die Wohnung nach letzten Überresten von Chametz durchsucht. Doch während der Feiertage leidet niemand Mangel – statt Brot gibt es ja Matzah, und außerdem hat die jüdische Küche eine große Vielfalt von regional verschiedenen Pessachrezepten entwickelt, die auf phantasievolle Weise die ausgesonderten Lebensmittel ersetzen. Während diese Umstellung der Essgewohnheiten das Pessachfest spürbar prägen, liegt doch sein Hauptinhalt im Thema der Befreiung.
Es geht um die Erinnerung an die Leiden Israels in der Knechtschaft und um die Würdigung des Aufbruchs in die Freiheit, der mit Hilfe Gottes gelang. Aber im Mittelpunkt steht nicht das einfache Nacherzählen der damaligen Erlebnisse der Israeliten, sondern die Vergegenwärtigung der Befreiungserfahrung: „In jeder Generation ist jede/r verpflichtet, sich so zu betrachten, also ob er/sie selbst aus Ägypten ausgezogen wäre“. Nicht von außen, zeitlich und räumlich entfernt von den Ereignissen, soll der Auszug aus Ägypten betrachtet werden, sondern als ob man selbst Teil davon war. Jede/r soll die Erfahrung der Befreiung selbst empfinden können und sich selbst als ein Teil des Volkes Israel begreifen.
Das zentrale Gebot lautet, davon den Kindern zu erzählen, um auch ihnen diese Identifikation mit der Geschichte Israels zu ermöglichen. So beginnt das einwöchige Pessachfest mit dem Sederabend – Familie und Freunde oder auch die Gemeindemitglieder versammeln sich zu einem Festmahl, das einer bestimmten Ordnung („Seder“) folgt. Strukturiert wird diese durch die Haggadah („Erzählung“), einer Kompilation von Texten aus der Bibel, aus rabbinischer und mittelalterlicher Literatur, die vom Weg Israels nach Ägypten und von seiner dortigen Unterdrückung handeln und berichten, wie Gott sie mit „starkem Arm und ausgestreckter Hand“ von dort herausführte und errettete. Die Erzählung wird auch sinnlich erfahrbar durch verschiedene symbolische Speisen, die auf dem Sederteller angeordnet sind: Bitterkräuter stehen für das bittere Los der Sklaverei, ein braunes Mus aus Äpfeln und Nüssen erinnert an die Lehmziegel, die in der Zwangsarbeit hergestellt werden mussten, Salzwasser symbolisiert die von den Israeliten vergossenen Tränen. Die Matzah ist das ungesäuerte „Brot der Armut“, das die Israeliten als eilig zubereitete Wegzehrung mitnahmen. Über den langen Abend hinweg werden auch vier Gläser Wein oder Traubensaft getrunken, die einzelne Stufen des Erlösungsprozesses markieren.
Den Auftakt zur Erzählung vom Auszug aus Ägypten geben vier, von Kindern gestellte Fragen, die auf die sichtbaren Unterschiede des Sederabends zu einem gewöhnlichen Familienmahl hinweisen und sich nach deren Grund erkundigen. Als Antwort darauf soll nicht nur der traditionelle Text der Haggadah vorgelesen werden, sondern die Erwachsenen sollen ihn anreichern durch eigene Erläuterungen, Auslegungen und persönliche Erfahrungen von Knechtschaft und Befreiung. Lieder, Spiele und ein üppiges Mahl halten Jung und Alt wach. Das Zelebrieren von historischer Vergegenwärtigung, das sinnliche Lernen vermittels essbarer Symbole, das gesellige Beisammensein mehrerer Generationen und ihre Erzählungen hinterlassen bei allen Anwesenden einen tiefen Eindruck und bleibende Erinnerungen. Die Bedeutung des Sederabends für die Weitergabe und Stärkung jüdischer Identität kann kaum überschätzt werden.
Während der Sederabend traditionell ein Familienfest ist, wird er in den meisten jüdischen Gemeinden Deutschlands auch als Gemeindeseder gefeiert. Historisch bedingt gibt es nur wenige jüdische Familien, die mehrere Generationen umfassen, und viele der Zuwanderer haben erst im Erwachsenenalter ihren ersten Seder erlebt. Die Erfahrung von Exodus und Aufbruch in die Freiheit gehört jedoch zu den Biographien der meisten Gemeindemitglieder, besonders jener, die aus der früheren Sowjetunion und aus anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks eingewandert sind. Pessach handelt also nicht nur von einem mythologischen Geschehen vor mehr als dreitausend Jahren in Ägypten, sondern ist Teil jüdischen Selbstverständnisses hier und heute.
Nach dem Sederabend geht das Pessachfest noch sieben Tage weiter. Die meisten begehen diese Woche vor allem kulinarisch, also durch das Essen von Matzah und besonderen Pessachgerichten. Da Pessach meist in die Zeit der Osterferien fällt, unternehmen viele Ausflüge und Besuche bei Verwandten und Freunden. Liturgisch bedeutsam ist das Gebet um Tau am ersten Tag, das den jahreszeitlichen Charakter von Pessach als Frühlingsfest hervorhebt. Der letzte Tag von Pessach ist wieder ein Vollfeiertag, der des Durchzugs der Israeliten durch das Schilfmeer gedenkt. Im Gottesdienst wird festlich das Schilfmeerlied (Ex 15) vorgetragen. Nach Ausgang des Feiertages zelebrieren manche die Rückkehr zur gewohnten Ernährung mit allen möglichen Getreideprodukten durch demonstrativen Verzehr von Pizza und Bier. Abgenommen hat aber während Pessach bestimmt niemand.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Die Beziehung zwischen Pessach und Ostern lädt zum Nachdenken über die Beziehung von Judentum und Christentum ein. Die beiden Feste finden ungefähr zur selben Zeit (wenn auch nicht am selben Tag) statt. Sie thematisieren Befreiung.
Dabei ist es interessant, wie wenig dem Judentum und Christentum gemeinsame Themen in den Gottesdiensten vorkommen. Die Kerntexte der Synagogenliturgie (Ex 12,21– 51; Jos 3,5–7; 5,2–6,1.27) und der Haggada (Jos 24,2–4; Dtn 6,21; 26,5–8) spielen keine Rolle zu Ostern.
Darin zeigt sich, dass die Feiern der österlichen Tage einer anderen Erzählung folgen als das biblische und das spätere jüdische Pessach. Sie bilden die im Neuen Testament erzählte Geschichte vom Einzug in Jerusalem (Palmsonntag) zum letzten Abendmahl, zur Fußwaschung und dem Gebet am Ölberg (Gründonnerstag), zu Leiden, Tod und Begräbnis (Karfreitag) und schließlich zur Auferstehung Jesu (Karsamstag und Ostersonntag) ab. Die christliche Gemeinde erlebt die letzten Tage Jesu – nicht den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten.
Prof. Dr. Clemens Leonhard
Namensgebung beziehungsweise Namenstag
Eine jüdische Stimme
Das Judentum misst Namen eine große Bedeutung zu, denn sie sind Ausdruck der Zugehörigkeit eines Individuums zu Familien- und Gemeindetraditionen. Außerdem hegen Eltern die Hoffnung, dass sie ihrem Kind mit einem wohlklingenden, beziehungsreichen Namen ein positives Vorzeichen auf seinen Lebensweg mitgeben. Die Namensgebung ist bei Jungen Teil der Beschneidungszeremonie am 8. Lebenstag. Bei Mädchen wird der Name nach der Geburt im Rahmen einer Torahlesung in der Synagoge verkündet. In den letzten Jahrzehnten ist es üblich geworden, auch für Mädchen ein eigenes Ritual der Namensgebung zu feiern. Viele Kinder haben daneben noch einen „bürgerlichen“ Namen, der ihr offizieller Rufname ist.
Bei der Entscheidung für einen Namen werden häufig je nach regionalem Brauch verstorbene oder lebende Familienmitglieder geehrt, die auf diese Weise symbolisch das Kind durch das Leben begleiten. Daneben stehen eine Fülle biblischer Namen zur Auswahl und auch Namen, die Bezüge zum jüdischen Jahreskreis, zur Natur und zu erwünschten Charaktereigenschaften aufweisen. Die Eltern sind Teil des Namens, denn man wird stets als „X, Sohn/Tochter von Y und Z“ aufgerufen.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
„Jetzt aber - so spricht der HERR, der dich erschaffen hat, Jakob, und der dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir!“ (Jes 43,1)
Bei der Taufe wird der Ruf, den der Ewige an alle Menschen richtet, als Ruf-Name in die Taufformel eingebunden. Darin drückt sich die Gewissheit aus, dass wir als Menschen vom HERRN bei unserem Namen, der für uns als unverwechselbares Subjekt steht, angesprochen und „ausgelöst“, also erlöst sind.
Wir sind dadurch nicht nur mit dem Schöpfer verbunden, sondern Er auch mit uns. Schließlich wird jedes Kind „auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ getauft. Der dreifaltige Gott, der uns im Mutterleib gewoben hat, der unser Innerstes kennt (Ps 139), Er ruft uns beim Namen und wir dürfen Ihn beim Namen rufen. Das Christentum teilt die Überzeugung des Judentums: Der HERR kennt uns und liebt uns. Er schenkt uns einen Namen, damit wir uns zu einer eigenständigen Persönlichkeit entwickeln, aber auch auf seinen Ruf antworten und im Zweifel zu Ihm umkehren.
Fabian Freiseis
Langform Jüdische Stimme
Umkehren zum Leben beziehungsweise Antisemitismus ist Sünde
Eine jüdische Stimme
Antisemitismus hatte und hat mörderische Folgen, und selbst seine „milderen“ Varianten vergiften das Leben. Die religiös, rassisch oder politisch begründete Abwertung des Judentums fordert die jüdische Gemeinschaft zu allen Zeiten zu Antworten heraus. Manche Jüdinnen und Juden versuchten den Demütigungen zu entgehen, indem sie möglichst wenig als solche erkennbar sind und sich an die Umgebung assimilieren. Am anderen Ende des Spektrums finden sich jene, die diese Bemühungen als aussichtslos verwarfen und die Errichtung eines eigenen Gemeinwesens erstrebten, in dem Judenhass keine Chance mehr haben würde. Jüdische Gegenwehr äußerte sich auch in vielfältigen Formen von Aufklärung, Apologetik und Entkräftung antisemitischer Anwürfe. Der Verunsicherung von außen wurde Stolz auf die eigene Kultur, Religion und Geschichte entgegengesetzt. Nur wenige ließen sich beeindrucken von christlichen Missionierungsversuchen, gleich ob sie als Zwang oder in vermeintlicher Liebe vorgetragen wurden.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
s.u. die PDF Jüdische Stimme Langfom
Eine christliche Stimme
"Der Antisemitismus hat .... seinen Sitz .... in einem bösen Herzen.“
(Peter von der Osten-Sacken)
Das vorangestellte Zitat eines der Großen im jüdisch-christlichen Dialog verweist darauf, dass es sich hier um eine theologisch begründete Reflexion zum Antisemitismus handelt. Es geht mithin nicht um die gesellschaftlich-politische Analyse des Antisemitismus, der in den letzten Jahren auch in Deutschland immer unverhohlener seine Fratze zeigt und Jüdinnen und Juden existentiell und damit die gesamte demokratische Kultur und Gesellschaft bedroht. Diesen Antisemitismus zu bekämpfen ist Aufgabe dieser Gesellschaft, und zwar nicht nur aus Verantwortung vor der Geschichte und aus Solidarität, sondern auch aus der Einsicht, dass da, wo er obsiegt, keine menschenwürdige Existenz mehr möglich ist.
Die anders fundierte Rede vom Antisemitismus unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch, dass ihr die distanzierte abstrakte Redeform nur begrenzt möglich ist. Gewiss ist es durchführbar, den Antisemitismus als ein Phänomen der Kirchengeschichte zu beschreiben, das je unterschiedlich Theologie und Kirche beeinflusste, aber selbst in diesem Kontext kann nicht davon abgesehen werden, dass Sünde getan wird, es also Akteure der Sünde gibt. Wenn man vom Antisemitismus spricht, kann man von den Antisemiten nicht schweigen. Ihre Haltung und Tun müssen als Sünde benannt werden, weil sie eine Verneinung der Anderen leben, biblisch gesprochen: sie hassen. Sie können sich einreden, ihr Hass wäre beschränkt auf bestimmte Menschen, aber der Antisemitismus ist eine Sünde, die den Menschen zur Gänze erfasst. Es gibt keine guten Antisemiten. Dann noch zu meinen, man könne an den einen wahren Gott glauben, ist nicht einsichtiger als das Reden Kains.
Prof. Dr. Rainer Kampling, Geschäftsführender Direktor, Berlin
Purim beziehungsweise Karneval
Wir trinken auf das Leben: Purim beziehungsweise Karneval
Eine jüdische Stimme
Kleine und große Clowns, Ritter, Prinzessinnen, Monster, Hexen, Zebras, Hasen und andere phantasievoll gekleidete Gestalten haben sich in der Synagoge versammelt, machen Krach mittels Rasseln, trampeln mit den Füßen, pfeifen und bringen „Buh“-Rufe aus. Und all das bei der Verlesung eines biblischen Buches?? Purim ist das Lieblingsfest jüdischer Kinder, denn sie dürfen sich nach Herzenslust verkleiden und brauchen mal nicht ruhig zu sitzen, weil der Lärm sogar Teil der Liturgie ist. Wann immer der Übeltäter Haman genannt wird, bricht ein enormer Krach aus, um dessen Namen auszulöschen. Die Leute rasseln, stampfen und lachen – nur mühsam beruhigt sich die Gemeinde wieder, um die Lesung fortsetzen zu können.
Es sieht aus wie Fasching, es klingt wie Karneval – aber der Anlass für das ungestüme Treiben ist ein sehr ernster. Das biblische Esther-Buch erzählt vom Leben der Juden in Persien, im Reich von König Achaschwerosch, der „über 127 Provinzen, von Indien bis Äthiopien“ regierte. Am Ende eines halbjährigen Gelages verstößt er seine Ehefrau und Königin Waschti, weil sie sich weigert, für seine betrunkenen Gäste zu tanzen. Nach einer aufwändigen „Miss-Wahl“ erkor er die Jüdin Esther zu seiner neuen Frau, weiß aber nichts von ihrer Herkunft, denn auf Geheiß ihres Onkels Mordechai verschweigt sie diese. Die Geschichte beginnt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, aber schon bald fällt ein schwerer Schatten auf die Juden des persischen Großreichs. Des Königs Premierminister, Haman, ist ein geltungssüchtiger und machtgieriger Mann, der sich zutiefst gekränkt fühlt, weil der Jude Mordechai nicht vor ihm niederkniet. Er sinnt auf Rache und beschließt, „zu vertilgen, zu würgen und zu vernichten alle Juden, von jung bis alt, Kinder und Frauen an einem Tag (…) und ihre Habe zu plündern“ (Esth 3, 13). Das Los („Pur“) bestimmt den 13. Adar als den für dieses Massaker vorgesehenen Tag.
Als Mordechai Königin Esther auf dieses mörderische Vorhaben aufmerksam macht, zögert sie zunächst: Was kann sie als Frau schon ausrichten? Aber sie fasst sich ein Herz und schmiedet einen Plan, mit dessen Hilfe sie Haman zu Fall bringt. Am für Mordechai vorgesehenen Galgen wird nun er selbst hängen. Die Gefahr ist abgewendet: Die Juden sind gerettet, zum neuen Premierminister wird Mordechai ernannt, Esthers Zugehörigkeit zum jüdischen Volk ist nun allen bekannt. Gegen Ende des Esther-Buches wird angeordnet, fortan den 14. und den 15. Adar zu feiern als „Tage, an denen die Juden Ruhe fanden vor ihren Feinden, und zu halten den Monat, der sich ihnen verwandelte von Unglück in Freude, von Trauer zu einem Feiertag, als Tage des Festgelages und der Freude, einander Gaben zu schicken und den Bedürftigen Geschenke“ (Esth 9, 20-22).
Es kommt beim Purim-Fest nicht darauf an, ob die Esther-Rolle von historischen Ereignissen berichtet oder eher eine fiktive Erzählung ist. Gleich ob die Geschichte echt ist oder literarisch – sie widerspiegelt wahre Begebenheiten, nämlich die jahrtausendelange jüdische Erfahrung der Schutzlosigkeit inmitten anderer Völker und der Abhängigkeit von Launen lokaler Herrscher, die – sobald ihre Begehrlichkeiten nicht erfüllt wurden – zu blutigen Pogromen aufriefen. Kein Wunder, dass der seltene Erfolg im Abwenden von Massakern und Vertreibung gebührend gefeiert wird. Die zentrale antisemitische Vorhaltung, dass Juden nicht dazu gehören und wegen ihres Festhaltens an eigener Kultur und Religion der Illoyalität verdächtigt werden, findet sich schon in den Worten des Judenhassers Haman:
„Da ist ein Volk, zerstreut und versprengt unter die Völker in allen Landschaften deines Königreichs, deren Gesetze verschieden sind von denen anderer Völker; die Gesetze des Königs tun sie nicht und dem König bringt es nichts, sie gewähren zu lassen“ (Esth 3, 8).
Bereits im biblischen Buch werden die vier wesentlichen Purim-Bräuche festgelegt:
- Das Verlesen der Esther-Rolle,
- Das Abhalten einer Festmahlzeit,
- Das Senden von Gaben an Freunde und Nächste,
- Das Geben von Geschenken an Arme.
Es ist üblich, einander Süßigkeiten und selbst zubereitete Speisen zu schenken. Das typische Gebäck für Purim sind die „Haman-Taschen“ oder „Haman-Ohren“, dreieckige, mit Mohn, Datteln oder Marmelade gefüllte Kekse. Bedürftige Menschen werden mit Lebensmitteln oder mit Geld bedacht, damit auch sie sich Festmahlzeiten leisten können. Und warum heißt es „Esther-Rolle“? Weil der Text des Esther-Buchs aus einer auf Pergament handgeschriebenen Rolle (Megillah), ähnlich einer Torah-Rolle, vorgetragen wird. Wann immer bei der Verlesung der Name „Haman“ genannt wird, ertönt ohrenbetäubender Lärm.
Aber was hat es mit dem Verkleiden auf sich? Dieser Brauch ist noch nicht in der Bibel erwähnt, sondern offensichtlich von den katholischen Nachbarn in Europa abgeschaut. In Israel gibt es heute mancherorts auch Festtagsumzüge mit geschmückten Karnevalswagen, Tanzgruppen und Kapellen. In Synagogen und Schulen werden spaßige Lehrvorträge von „Purim-Rabbinern“ gehalten, ähnlich den Büttenreden. Das faschingsartige Treiben passt aber gut zu der Maxime des Purim-Festes, an diesem Tag verkehrte Welt zu spielen. Dazu gehört auch der übermäßige Konsum von Alkohol, bis man so betrunken ist, dass man nicht mehr zwischen Haman, dem Übeltäter, und Mordechai, dem positiven Held der Geschichte, unterscheiden kann. Die tiefe Wahrheit dahinter ist, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht so bleiben muss, wie sie ist: Wer einst zu den Oberen gehörte, wird gestürzt; die Niederen werden erhöht. Und auch die Grenzen zwischen Gut und Böse sind oftmals gar nicht so eindeutig, wie wir es gern hätten. Mit Hilfe der Masken und Kostüme verwischen wir Identitäten und Fremdzuschreibungen.
All die Ausgelassenheiten von Purim können nicht verdecken, dass das Fest einen ernsten Hintergrund hat. Es wird ein triumphaler Sieg über den Antisemitismus gefeiert – wohlwissend, dass historisch viel zu selten dem mörderischen Judenhass Einhalt geboten wurde. Wir aber bekräftigen dabei unsere Zugehörigkeit zum Judentum und geben uns einmal im Jahr der Illusion hin, dass mit der Bestrafung einzelner Täter auch der Antisemitismus beseitigt wäre.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
Dass die Zeit des Karneval in den Rahmen des christlichen Kirchenjahres eingespannt ist, merkt man den Tagen der „verkehrten Welt“ am Rhein, im alemannischen Süddeutschland und der Schweiz, in Venedig oder auch in Rio nicht unmittelbar an. In Köln z.B., einer Hochburg des rheinischen Karnevals, gilt aber nach wie vor das Motto „Fastelovend und Kirche gehören fest zusammen“. Anfang Januar, wenn die „Session“ mit den zahllosen Sitzungen des Saalkarneval beginnt, findet ein festlicher Gottesdienst im Dom statt. Die Karnevalsvereine der Stadt nehmen mit ihren Fahnen und in bunten Kostümen daran teil, und der Domorganist zieht das Register „Loss Jon“ (=lass gehen; los geht‘s) an der Schwalbennestorgel. Dadurch wird ein Mechanismus ausgelöst, der das Karnevalslied „Am Dom zu Kölle“ erklingen lässt und eine Klappe unter dem Pfeifenprospekt öffnet, durch die ein Kopf mit Narrenkappe lugt.
Was aber macht ein Narr im christlichen Gotteshaus; wie gehören Karneval und das Kirchenjahr zusammen? Traditionell verzichteten Christen und Christinnen in den vierzig Tagen vor Ostern auf den Genuss von Fleisch und schränkten auch sonst ihr gewohntes Leben ein. Die Karnevalstage liegen unmittelbar vor dieser auch heute noch so genannten Fastenzeit. An Karneval sagte man gewissermaßen „dem Fleisch Lebwohl“ (carne vale). Nach einer anderen, wohl wissenschaftlich genaueren Erklärung ist Karneval der Moment, wo das „Fleisch weggenommen“ wird (carnis levamen). An Karneval durfte man aber auch die Welt auf den Kopf stellen. Von derartigen Bräuchen haben wir Quellen seit dem Mittelalter. Spott auf die Herrschenden in Staat und Kirche, aber auch auf die oft starren Ordnungen in Gesellschaft und Familie äußerte sich in derben Theaterspielen. Ausgiebig wurde getanzt und dem Alkohol zugesprochen. Es kamen noch einmal fette Speisen auf den Tisch. Von daher stammt die schwäbisch-alemannische Bezeichnung „schmotziger Dunschtig“ / schmalziger Donnerstag für den Donnerstag vor dem Karnevalssonntag. Auch in Venedig kennt man den „giovedi grasso“, den fetten Donnerstag, und im Französischen heißt der letzte Tag der Karnevalszeit „mardi gras“ / fetter Dienstag.
Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit. Bezeichnungen wie das rheinische „Fastelovend“ (Fast-Abend) oder auch „Fastnacht“ für den Karneval erinnern daran, dass diese tollen Tage eine Art Schwelle oder Übergang darstellen zwischen dem Leben des Alltags und der Zeit der Vorbereitung auf das Fest der Auferstehung Christi. Den Reformatoren des 16. Jahrhunderts ging die verkehrte Welt dieser Tage mit ihren Ausschweifungen zu weit, weswegen sie dagegen predigten. So erklärt es sich, dass Fastnachtsbräuche vor allem in traditionell katholischen Gebieten gepflegt werden. Und manche Karnevalslieder in Köln haben nicht nur allgemein religiöse Themen, sondern greifen tief in das Repertoire spezifisch katholischer Motive. Die Ausgestaltung der „tollen Tage“ hat ihre heutigen Formen allerdings erst ab dem frühen 19. Jahrhundert gewonnen. Der alemannische „Mummenschanz“ mit seinen grotesken Masken und dem unheimlichen Trommeln und Rasseln scheint dabei wohl gegen die feinere, bürgerliche Fastnacht am Rhein wiederbelebt worden zu sein und erinnert eher an das Austreiben der Wintergeister als an christliche Ursprünge.
Fast-Nacht als Bezeichnung der Tage vor der Fasten-Zeit bringt den Karneval in Beziehung zu einer Zeit des bewusst gewählten Verzichts. In der christlichen Tradition wurde dies als sichtbarer und spürbarer Ausdruck einer Gesinnung betrachtet, die sich vor Gott als Sünder sah und Buße tat. Auch heute können Christinnen und Christen diese Zeit individuell nutzen, um ihr Leben, auch und gerade vor Gottes Angesicht, kritisch zu überprüfen und ihm vielleicht neue Ausrichtungen zu geben. In manchen christlichen Gemeinden wird in der Fastenzeit vermehrt ein ökologisches Engagement angestoßen, und der Blick richtet sich verstärkt auf Not und Ungerechtigkeiten vor der eigenen Haustür, aber auch weltweit.
Der Karneval mit seiner Einbindung ins Kirchenjahr lebte lange aus der selbstverständlichen öffentlich-gesellschaftlichen Präsenz des Christentums mit seinen Riten, Bräuchen und Vorschriften. Gegenwärtig hat er sich ein ganzes Stückweit von dieser traditionellen Beziehung abgelöst und steht als Zeit der „verkehrten Welt“ in sich. Wer in ein Kostüm schlüpft, kann neue Rollen, eine neue Haut ausprobieren, die im gewöhnlichen Alltag nicht zum Tragen kommt. Mit ihrer eigenen Dynamik der „tollen Tage“ ist die Karnevalszeit Ausdruck unbändiger Lebensfreude. Dazu kommt ein kritischer Akzent: Narren an den Fürstenhöfen durften und sollten den Herrschenden den Spiegel vorhalten; Narren bei der Büttenrede schonen weder die Einflussreichen in der Politik noch die Würdenträger in den Kirchen. So gesehen hat der Karneval auch utopische Momente: dass das Leben mit seinen oft harten Begrenzungen und Ungerechtigkeiten nicht alles ist; dass die Herrschaft der Herren auch angezweifelt werden kann.
Die feste Einbindung des Karneval ins christliche Kirchenjahr war mitverantwortlich dafür, dass antijüdische Ressentiments gegen das Purimfest nicht nur in der Nazipropaganda, sondern auch auf christlicher Grundlage gedeihen und zum Ausbruch kommen konnten. Die „verkehrte Welt“ hatte sich selbstverständlich nach dem christlichen Festkalender zu richten – und Purim fällt meistens in die Fastenzeit, also die Zeit des christlichen Verbots von Festen, Feiern und Fröhlichkeit. Christen nahmen Anstoß am Tanzabend der Juden zu Purim, und wenn Purim und Karfreitag auf das gleiche Datum fielen, konnten sich die antijüdischen Ausschreitungen der Christen am Tag der Kreuzigung Jesu noch zusätzlich aus der Wut nähren, dass Juden keinen Respekt vor den christlichen Ordnungen kennen. Auch heute ist ein Zusammentreffen von Karfreitag und Purim nicht problemlos: die Bundesrepublik Deutschland kennt gesetzlich verankerte sogenannte „stille Tage“ mit dem Verbot öffentlicher Vergnügungen, Tage, die sich mit Ausnahme des Volkstrauertages ausschließlich am christlichen Kalender orientieren, allen voran der Heilige Abend (24.12.) und der Karfreitag. Im Jahr 2016, als wieder einmal Karfreitag und Purim zusammenfielen, konnte der jüdische Studentenverband München immerhin eine Purimparty organisieren – mit einer Sondergenehmigung der Stadtverwaltung.
Gegenwärtig wird vielerorts der Karneval als Projekt verstanden, an dem ganz praktisch die Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde oder Stadt zusammen feiern. Im Düsseldorfer Rosenmontagszug 2019 und 2020 fuhr der „Toleranzwagen“ mit, der einen katholischen Pastor, eine evangelische Pfarrerin, einen Rabbiner und einen Imam zeigte, alle mit roter Pappnase und der Geste des „Helau“. Die Ursprungsidee war von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf ausgegangen.
Prof.Dr. Marie-Theres Wacker, Münster